Betrachtungen

Randbemerkungen zu verschiedenen Themen
 

 

Radio im TV-Zeitalter
(2004)

"T.V. rules - 
(Pretty soon we won't be able to turn it off at all) 
All you fools - 
(Then it'll turn you off - your back's against the wall) 
In the - T.V. age" 
(Joe Jackson: T.V. Age)

Die Urform der Überlieferung, noch vor Erfindung der Schrift, liegt im Erzählen. Geschichten wurden vorgetragen, angehört, auswendig gelernt und weitererzählt. Den Vortrag unterstützten dabei immer die Melodie und der Rhythmus. Versmaß und Reim erleichtern das Memorieren. Das Erzählen als Gedicht, Lied und begleitender Musik war ein Gesamtkunstwerk.

Erzählungen wie das Gilgameschepos, die Ilias oder die Odyssee wurden von Generation zu Generation weitergegeben, bevor sie viel später einmal auf Tontafeln, Papyrus oder Pergament festgehalten worden sind. Mit der Sprache, der Erzählkunst und dann mit der Schrift entwickelt sich vor etwa 3000 Jahren auch eine neue Art zu denken: ein reflexives Selbstbewusstsein entsteht. Denn die Sprache macht es möglich, nicht nur äußere Dinge, sondern auch innere Vorgänge zu repräsentieren.

Die Schrift einerseits und die bildliche Darstellung andererseits fixierte die Überlieferung auf einem Medium. Die Überlieferung wurde unabhängig vom lebenden Erzähler. Sie bekam Eigenleben.

Geschriebener Text muss gelesen werden. Im Anfang wird laut vorgelesen. Das war übrigens noch bis ins Mittelalter hinein üblich. Erst mit der Neuzeit beginnen Menschen leise und für sich zu lesen.

Eine Erzählung, gleich ob oral vorgetragen oder gelesen, erfordert vom Rezipienten, dem Hörer oder Leser, Fantasie.  Unterhaltungsmedien heutzutage streben dagegen einen Hypernaturalismus an, der alle Sinne in Beschlag nimmt. Videobrille, Helmdisplay oder VR-Helm entführen in eine Cyberwelt, die verwechselbarer wird mit der Wirklichkeit. Für Fantasie bleibt kein Raum, der Rezipient kann nicht mehr aktiv vorstellen, nur noch passiv wahrnehmen. Seine innere Distanz zu den zugeführten Eindrücken geht verloren und er kann sich kaum über seine Stellung zum Dargestellten bewusst werden und kaum über das Dargestellte reflektieren. Bedeutet das TV-Zeitalter und in der Fortsetzung das Cyber-Zeitalter das Verschwinden des Bewusstseins?

Im Medium Radio spielt die menschliche Stimme wesentlich die übermittelnde Rolle. Im Grunde sind Radiomacher Geschichtenerzähler. Es bleibt immer eine gewisse Distanz zum Erzählten, aber zugleich auch eine besondere Nähe zum Erzähler. Das gesprochene Wort ist doch etwas Besonderes, hat eine gewisse Magie.