Betrachtungen

Randbemerkungen zu verschiedenen Themen
 

 

Das Problem des Todes und des Lebens
(2000)

 

Das Problem des Todes in der Vorzeit

In der Neuzeit setzte sich ein Denken durch, das die unbelebte Natur als Modellfall setzte, eine Natur, in der materielle Dinge als äußere Ursache eine äußere Wirkung bei anderen materiellen Dingen hervorrufen.

Vor dieser Zeit herrschte die Vorstellung, dass alles belebt sei: So wie der Mensch sich selbst als lebend erfuhr, so setzte er auch bei allen Begegnungen mit der äußeren Welt voraus: die ganze Welt müsse so beschaffen sein wie er selbst. Alles was war, war Leben. In dieser animistischen Auffassung werden Leben und Sein synonym gedacht. Für den Philosophen Hans Jonas ist es der Tod, der die Menschen jener Zeit zum Denken bewegt:

"In einer solchen Weltsicht ist der Tod das Rätsel, das dem Menschen ins Gesicht starrt, der Widerspruch zu dem Verstandenen, sich selbst Erklärenden, Natürlichen, welches das allgemeine Leben ist. In dem Maße, in dem das Leben als primärer Zustand der Dinge gilt, ragt der Tod als das verstörende Geheimnis auf." 
[Hans Jonas: Das Problem des Lebens und des Leibes in der Lehre vom Sein; in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 19, 2; 1965]

Das Problem des Todes ist wahrscheinlich das erste Problem in der Menschheitsgeschichte, mit dem Denken sich intensiv auseinandergesetzt hat, auch wenn dieses Denken sich noch nicht in begrifflicher Schärfe vollzieht, sondern in der Form von Mythen erfolgt. Der Tod und die Sterblichkeit erschüttern die panvitalistische Grundauffassung.

"So ringt alles frühmenschliche Nachdenken mit dem Rätsel des Todes und versucht, in Mythos, Kult und Religion eine Antwort darauf zu geben." 
[Hans Jonas: ebd.]

 

Das Problem des Lebens im neuzeitlichen Denken 

In der Renaissance beginnt das neuzeitliche Denken, das von einer unbelebten Natur als Modellfall ausgeht. In der unbelebten Natur werden die Gesetzmäßigkeiten gefunden, nach denen die ganze Welt bestimmt wird. Für das neuzeitliche panmechanistische Denken ist der Tod das Natürliche und Verständliche. Problematisch wird hier nun das Leben. Hans Jonas sieht uns im Vergleich zu den Menschen der Vorzeit in der genau umgekehrten theoretischen Lage:

"Von den Naturwissenschaften her ist für die Erkenntnis der gesamten Wirklichkeit eine Ontologie zur Herrschaft gelangt, deren Substrat die aller Lebenszüge entkleidete pure Materie ist. Was auf der Stufe des Animismus nicht einmal entdeckt war, hat inzwischen das Ganze der Wirklichkeit überschwemmt und für nichts anderes mehr Raum gelassen. […] Unser Denken heute steht unter der ontologischen Dominanz des Todes." 
[Hans Jonas: Das Problem des Lebens und des Leibes in der Lehre vom Sein; in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 19, 2; 1965]

Man könnte kritisieren, dass an dieser Stelle vom "Tode" gesprochen wird; dass stattdessen vielmehr eine "Indifferenz der bloßen Materie" gemeint ist, in der Tod und Leben gar nicht mehr unterschieden werden, "während ‚Tod' einen antithetischen Sinn hat und nur auf das beziehbar ist, was lebend ist oder sein kann oder war." Nach Hans Jonas' Entgegnung  dieser Kritik wurde die Welt in der Vorzeit durchaus als lebend gedacht und die jetzige mechanische Konzeption des Universums stellt demgegenüber sehr wohl eine Antithese dar. So begreifen wir die Welt heute aus den Gesetzmäßigkeiten der leblosen Materie heraus. Den Blick aufs Objekt gerichtet, sehen wir die Welt als verfügbares Material. Und über Jahrhunderte hinweg waren wir sehr erfolgreich darin, dieses Material umzubauen und die Welt zu verändern. Aber ein großes Rätsel ist nach wie vor das Leben, dasjenige außer uns und das Leben in uns.